Die Sache mit Herrn Schärer.

 

Frau Hecht ist gestorben. Sie hat ihren 90sten Geburtstag nicht mehr erlebt. Aber es war sowieso fraglich ob sie noch wirklich etwas erlebte. Sie sass den ganzen Tag entweder im Rollstuhl oder lag im Bett. Sie konnte schon seit Jahren nicht mehr gehen und die Arme noch gerade einsetzen, um etwas zum Mund zu führen.

 

Das erste Gespräch, dass ich vor etwa anderthalb Jahren mit ihr führte, war etwas verwirrend. Es war die erste Therapiesitzung, die ich, wie bei allen Patienten im Alterszentrum, in ihrem Zimmer abhielt. Ich begrüsse Patienten immer mit: `` Guten Tag Frau Hecht (oder welcher Name gerade aktuell ist). `` Normalerweise erzähle ich dann wer ich bin (Herr Madou) und weshalb ich komme (Physiotherapie). Bei ihr kam ich nicht dazu, denn sie sagte: ``Ja gruezi Herr Schärer. Schön, dass Sie mich besueche chömmet..``

 

Daraufhin meinte ich, ich müsse sie korrigieren, denn wer war um Himmelswillen Herr Schärer. Also sagte ich, ich heisse Madou und käme, um mit ihr etwas Therapie zu machen. `` Oh, Sie machet Therapie mit mir. Machet Sie nur Herr Schärer.`` Ich versuchte noch einmal, Frau Hecht auf ihren Fehler aufmerksam zu machen und sagte ihr nochmals, ich heisse Madou und nicht Schärer. Als sie dann antworte mit: `` Das ist aber schön Herr Schärer, dass Sie Madou heisset.`` habe ich aufgegeben und seitdem war ich immer Herr Schärer für sie. Wie schlecht es ihr auch ging, an meinen Namen (Herr Schärer)  erinnerte sie sich eigentlich immer.  Ausser wenn sie schlief. In den letzten Monaten schlief sie so gut wie immer. Und sprechen war eher eine Ausnahme oder sie  erzählte so unzusammenhängendes (``Ich muss zum Winzerfest und fahre gleich hin mit dem Zug``.) , dass man sich fragen musste, in welcher Wirklichkeit sie in jenem Augenblick  gerade sei. Bei meinem letzten Besuch, am 5. August, war sie so halbwegs im Schlaf und sehr verkrampft. Mehr noch als immer schon. Arme und Beine durchbewegen ging nur noch mühsam. Einmal öffnet sie die Augen und sah mich an.  Von oben herab, denn ich war gerade mit ihrem rechten Bein beschäftigt. Ein prüfender Blick erschien es mir. Aber da sie nicht mehr sprach war das mehr eine Interpretation meinerseits. Nach etwa zehn Sekunden schloss sie ihre beide Augen. Das Bein in meinen Händen entspannte sich um eine Winzigkeit, sodass ich schlussfolgerte, die sei eingeschlafen. Eine Minute später öffnete sie ihr rechtes Auge. Diesmal sagte ihr Blick (wiederum meiner Meinung und Gefühl nach): `` Ach, sie sind immer noch da. Hören Sie doch auf Herr Schärer, denn mit mir ist nicht mehr viel los.`` Dann schloss sie  das rechte Auge wieder und schlief wieder ein. In der Nacht starb Frau Hecht. 89 Jahre alt.

 

Ich weiss immer noch nicht, wer oder was  Herr Schärer für sie war. Ich werde es auch nie erfahren. Aber ist das so wichtig?

 

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