Anton

Ich war 1991 als Praktikant in einem Pflegeheim für überwiegend neurologischen Patienten in den Niederlanden tätig. Jeden Morgen haben wir uns mit allen Therapeuten um etwa 7.30 Uhr zusammengesetzt um den Tag zu besprechen. Um punkt Acht hörte man dann das Geräusch eines sich nähernden Elektrorollstuhls, der dann vor unserer, geöffneten, Sitzungszimmertür anhielt. Der Fahrer, 62 Jahre alt, 37 Kilo schwer und gelähmt an beiden Beinen und nahezu vollständig gelähmt an beiden Armen, schaute zu uns rüber und sagte, meistens etwas mürrisch: "Morgen, ich bin da." Das war Anton, der gerne mit verborgenen Mitteilungen kommunizierte. Er wollte eigentlich sagen: "Hallo, ich möchte meine Therapie im warmen "Schmetterlingsbad" und zwar von dem neuen Praktikanten, denn der ist 104 Kilo und wird mich nicht fallen lassen bei den Transfers, wie die letzte Praktikantin."Anton hatte nämlich Angst. Angst, die nicht unbegründet war, denn in seinem Leben war so einiges gründlich schief gelaufen. Es fing schon an bei seiner Geburt an einem sehr kalten Winterabend im Dezember 1929. (Damals waren die Winter noch echt kalt.) Erstens kamen er und sein Zwillingsbruder einige Monate zu früh und völlig überraschend auf die Welt und ohne Hebamme und Arzt. Da der Vater kein Risiko eingehend möchte, packte er beide Buben kurzentschlossen in eine kleine Kiste warm ein, band sie auf den Gepäckträger seines Fahrrades, "fiets" auf holländisch, und brachte sie in die Stadt, 15km entfernt, ins Spital, wo man die beiden in einen Brutkasten legte. Leider fiel in dieser Nacht der Strom und damit der Brutkasten aus und man glaubte, beide Kinder seien gestorben. Eine Schwester brachte dann auch beide ins Mortuarium. Gerade als sie wieder weggehen wollte, sah sie aus ihrem Augenwinkel etwas ungewohntes. Das eine Kind, den man später Anton taufte, bewegte ganz langsam den kleinen Finger der linken Hand. Das rettete dem Kleinen das Leben, sei es, das er durch den Sauerstoffmangel einen Gehirnschaden erlitten hatte, der sich vor allem auf die Motorik der Arme und Beine auswirkte. Sprachlich eher der genaue Gegenteil. Anton sprach gerne und viel. Trotz dieses Handicaps, die Lähmung, nicht das Sprechen, hat Anton es geschafft bis zu seinem 40sten Lebensjahr eine geregelte Arbeit nachzugehen und sich seinem Lieblingssport, dem Fussball, zu widmen, sei es als Anhänger seines Lieblingsklubs Venlo , nicht als Spieler. Mit 40 musste Anton aber ins Pflegeheim, da er nicht mehr für sich alleine sorgen konnte. Es bekam einen ersten elektrischen Rollstuhl, den er mit der linken Hand bedienen konnte. Er war ansonsten vollkommen pflegeabhängig. Und da ging es schon bald schief. Beim Baden in einem kleinen Sitzbad liess die junge Krankenschwester ihn kurz alleine. Da er sich nicht gut halten konnte rutschte er rückwärts tiefer ins Wasser und sein Kopf verschwand unter der Oberfläche. Vollkommen in Panik, dem ertrinken nahe, konnte er in letzter Sekunde, mehr zufällig als bewusst, die Kette des Stöpsels ergreifen und rausziehen. Seitdem hatte er panische Angst vor der Kombination junge Schwester und Wasser. Als einige Zeit später eine ebenfalls junge Schwester ihn beim anziehen von Ankleidetisch fallen liess und er sich dabei beide Hüftgelenke auskugelte, war er endgültig bedient. Frauen waren nicht sein Ding.Als er mich dann auch als Physiotherapeuten zugewiesen bekam, schaute er mich von oben bis unten an und sagte, als er meine 103kg sah: " Wenn du so stark bist wie du ausschaust ist es gut". Und es ging gut. Jeden Morgen hatten wir das gleiche Ritual. Es kam an unsere Tür, verkündete, das er da war und beendete damit meinen morgigen Kaffeegenuss. Dann gingen wir in das Zimmer wo das "Schmetterlingsbad", ein Bewegungsbad in der Form eines Schmetterlings, schon wartete. Ich füllte das Bad mit 32 Grad warmem Wasser unter der fachmännischen Betreuung von Anton der mich vokal begleitete mit Wörtern wie "zu warm, zu tief, zu kalt", je nach Sachlage, die ich dann mit handfesten Beweisen entkräften musste. Danach hob ich Anton kurzerhand aus dem Rollstuhl, er war schon in Badehose bekleidet, auf eine Trage, die ich dann elektronisch in das Bad sinken liess. Immer noch kommentiert von Antons "zu warm, zu tief, zu kalt", bis er dann ins Wasser lag und ich anfangen konnte, seine Gelenke durchzubewegen.Danach fing, je nach Wochentag, das Gesprächsritual an. Am Freitag fragte ich ihn, gegen wen sein Klub, Venlo, spielen musste, am Montag fragte ich dann, wie das Spiel ausgegangen sei. Ich musste fragen, denn das gehörte zum Ritual. Da Venlo fast immer verlor, sie stiegen das eine Jahr auf aus der zweiten Liga um dann im nächsten Jahr wieder abzusteigen, war das nicht ganz nett von mir. In diesem Jahr war Abstiegsjahr. Also musste Anton Montag für Montag, zähneknirschend, zugeben, dass sein Lieblingsklub mal wieder verloren hatte. "Aber nur knapp" war dann oft sein Muntermacher. Für ihn selber nehme ich an.Dann, eines Freitages, kündigte Anton an, Venlo spiele am Wochenende in der ersten Pokalrunde gegen einen Amateurklub. Es sei voller Zuversicht, Venlo würde gewinnen und die zweite Runde erreichen. Ich sprach meine Zweifel aus, was zu einer Wette führte. Aber es geschah wie Anton es vorausgesehen hatte. Nicht unerwartet, denn der Amateurklub war wirklich nicht sehr gut.Am Montagmorgen kam Anton wie gewohnt vor unserer Tür zum Stillstand und sagte er sei da. Er fuhr sogleich weiter und ich stand auf um ihm zu folgen. " Jetzt wartet er bis ich ihn frage, was Venlo im Pokal gemacht hat" sagte ich meinen Kollegen beim verlasen des Sitzungszimmers. "Dann kann er endlich voller Stolz antworten, nachdem er schon 5 Wochen hinter einander eine Niederlage eingestehen musste, sie haben gewonnen. Deshalb frage ich ihn heute nichts."Im Bewegungsbad schaute Anton mich voller Erwartung an. Er kommentierte nicht einmal das füllen des Bades. "Na frag schon", sagten seine Augen. Und ich sprach über alles, ausser über Fussball: Über das schöne Wetter, seine neue Badehose, ob das Wasser nicht zu tief sei.......oder zu warm. Nur nicht über Fussball.Nach zehn Minuten hielt Anton es nicht mehr länger aus. "Gewonnen!!!!!" war seine Antwort auf die unausgesprochenen Frage. Als er mich dabei ansah, sah er, dass ich ihn extra auf die Folter gespannt hatte und wir strahlten uns gegenseitig allwissend an. Sein Tag war gerettet. Meiner auch.

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