Chronische Schmerz: wie chronifizieren sich Schmerzen.

Das Wahrnehmen von Schmerzen ist für uns eine Selbstverständlichkeit. Beinahe täglich werden wir mit mehr oder minder starken Schmerzreizen konfrontiert. Sinnvollerweise, denn Schmerz ist ein Warnsignal des Körpers, dass uns auf eine „bedrohliche“ Situation aufmerksam macht und uns zur Verhaltensänderung veranläßt. Wer als Kind schon mal auf die heiße Herdplatte gegriffen hat, wird sich danach automatisch mehr vorsehen. Das zeigt, dass durch Schmerzen (in Verbindung mit Angst/ Furcht) manchmal Lernmechanismen aktiviert werden, die wir oft willentlich nicht steuern können.

Man geht an einem schönen Sommertag durch den Wald, tritt auf einen umherliegenden Ast und knickt mit dem Fuß um. Sofort treten starke Schmerzen auf, der Knöchel wird dick und heiß.

Sofort erhält das Gehirn Informationen von dem Ort des Geschehens; auch von den Schmerzbahnen: kein Auftreten möglich - zur Not hüpft man auf einem Bein weg… .

Die Gewebsschädigung war nicht so erheblich; nach 2-3 Wochen ist alles wieder normal.

Kein Schmerz, keine Schwellung, kein einbeiniges Hüpfen.

Es ist immer noch schönes Wetter und man wandert wieder durch den Wald. Vielleicht beachtet man ein wenig mehr als zuvor die herumliegenden Äste. Soweit, so gut.

Leider verläuft eine akute Schmerzsymptomatik nicht immer so glatt wie in dem o.a. Beispiel.

Manchmal, und meist unter bestimmten Umständen, entwickelt sich eine chronische Problematik. Der Mechanismus der Chronifizierung von Schmerzen soll hier in Grundzügen erläutert werden.

Chronischer Schmerz wird diagnostiziert, wenn die Schmerzen länger als 6 Monate andauern. Die eigentliche Chronifizierung beginnt allerdings schon nach wenigen Stunden oder Tagen des Akut-Ereignisses.

Chronischer Schmerz ist nicht sinnvoll. Er zeigt keine Schädigung, hat somit auch keine Schutzaufgaben. Trotzdem ist es Schmerz, d.h. die Lernmechanismen sind aktiv.

Dies bedeutet, dass bestimmte Areale im Gehirn, die die (ehemals) verletzte Region wiederspiegeln, weiterhin aktiv gehalten werden und auch an Präsenz gewinnen. Darüber hinaus wird die schmerz-betreffende Architektur auf zellulärer Ebene zu Gunsten des Schmerzes verändert: Schmerzbahnen werden sensitiviert, d.h. sie werden schneller und häufiger reaktiviert; Nervenbahnen die bisher Berührung/ Kälte/ Wärme gemeldet haben, melden jetzt Schmerzen; der Schmerz strahlt in Nachbargebiete aus; man hat Entzündungszeichen (Schwellung, Hitze, Rötung, Schmerz) im Dermatombereich (=Hautareale, die von der Nervenkette versorgt werden, die auch das ehemals verletzte Gebiet versorgen). . .  .

 

Warum eine Chronifizierung bei dem einen entsteht und bei dem anderen nicht, ist nicht vollkommen geklärt. Man weiß aber, dass der psychosoziale Kontext eine entscheidende Rolle spielt. Das Verhalten, die Einstellungen und Überzeugungen haben entscheidenden Einfluß auf das Schmerzerleben und –verhalten.

 

M Folgende Aspekte fördern eine Chronifizierung des Schmerzes:

§         Ehemals starker, akuter Schmerz

§         Negative „life events“ (=sehr wichtige Geschehnisse im Leben), z.B. Tod des Lebenspartner, eines Freundes; Scheidung; starker finanzieller Verlust; …

§         daily hassles ( ständige, mehr oder minder geringe negative Ereignisse( Ärgernisse))

§         Unbefriedigende Arbeitssituation

§         Passive Art des „Coping“ (Bewältigungsstrategie: Vermeidung von Aktivität)

§         „Hypervigilanz“ (Übertriebene Aufmerksamkeit auf das Schmerzareal)

§         „Fear avoidance beliefs“ (furchteinflößende Situationen vermeiden)

§         „Maladaptive Schmerzerkenntnis“ ( „bloß nicht bei Schmerzen bewegen“)

§         „Katastrophisieren“ (eine übertriebene negative Haltung gegenüber schmerzhaften Reizen, die zu einer negativen Stressreaktion führen kann; nicht nur vom Patienten, auch vom Arzt/Therapeuten/Partner aus)

§         Gesteigerte somatische Aufmerksamkeit (mehr um seinen Körper besorgt sein).

  • ðAuch kann das Verharmlosen von Schmerzen (mit Überlastung und geminderter Aufmerksamkeit) eine Chronifizierung fördern.

Aus therapeutischer Sicht bedeutet dies für die optimale Behandlung ein Erkennen von Risikofaktoren spätestens kurz nach der akuten Phase der Verletzung um einer Chronifizierung vorzubeugen.

Sollte die Chronifizierung bereits gefestigt sein, kann man diese „ problematischen Schmerzpatienten“ nur optimal behandeln, wenn man sie als solche erkennt. Merkmale und Folgen sind z.B:

§         M

§         Doctor hopping (übermäßiges Wechseln von Ärtzen – zu begründen mit einer zwanghaften Fixierung des Patienten auf eine medizinische Problemlösung)

§         Erhöhter Medikamenten-/ Alkoholkonsum

§         Frustration (Aggression)

§         Depressive Stimmung

§         Pessimistisch

§         Ängstlich

§         Niedriges Selbstwertgefühl

§         Soziale Isolation

§         Schlafprobleme

§         Bewegungs-, Kraft- und Koordinationsverlust

§         Gewichtsprobleme

§         Arbeitslosigkeit

§         Vermeintlicher Gewinn an sozialer Kompetenz und Aufmerksamkeit/ Zuneigung durch das „Aushalten“ des Schmerzes(„Opferrolle“)

 

Grundsätzlich ist zu sagen, dass vor der Diagnose „chron. Schmerzpatient“ eine adäquate medizinische Diagnostik stattgefunden haben muss, um alle in Frage kommenden Pathologien (für den Schmerz verantwortliche, körperlich-strukturelle Probleme) auszuschließen!!!

 

Da sich die Schmerzerfahrung auch als Lernerfahrung verhält, wird diese im Gehirn angelegt (wenn man sich z.B. einmal in den Finger geschnitten hat, ist diese Schmerzerfahrung beim zweiten Mal schon bekannt; sie läuft auf der selben Bahn wie die erste und wird nicht wieder entfernt; oder in anderem Kontext: wie oft liegt einem die Antwort auf eine Frage auf der Zunge, kann sie aber nicht sofort reproduzieren, sondern vielleicht erst 3 Stunden später?) und nicht wieder entfernt. Meistens reduziert sich die Präsenz der Schmerzerfahrung schnell. Nicht so bei der Chronifizierung. Durch die o.a. Merkmale werden weiterhin schmerzfördernde Substanzen ( Hormone, Neurotransmitter) ausgeschüttet, neue schmerzfördernde Strukturen gebildet - das Nervensystem sensitiviert sich.

Im Schmerzmanagement aus physiotherapeutischer Sicht sind folgende Strategien sinnvoll:

 

  1. Information und Aufklärung

Dem Patienten werden die Unterschiede des akuten und chronischen Schmerzes erklärt und schmerzfördernde und schmerzhemmende Mechanismen aufgezeigt. 

 

  1. Kognitive Umstrukturierung („thought challenging“)

Fragestellungen wie: „ist das hilfreich, so zu denken“, „was ist das schlimmste, was passieren kann“ oder „was sind die Alternativen“ … werden erörtert.

 

  1. Funktionelle Zielsetzung

Unterscheiden von kurz- und langfristigen Zielen des Patienten 

 

  1. Schrittweise Bewegungs- und Belastungssteigerung („pacing“)

Vermeiden von Über- und Unteraktivität, Einplanung von Ruhepausen, Selbstkontrolle anstatt Kontrolle durch den Schmerz,…, auch mentales „pacing“ ist möglich.

 

  1. Entspannung

Atemtechniken, Ablenken, Wohlbefinden, … 

 

  1. Reduktion von Medikamenten und passiven Maßnahmen ( „hands off“-Strategie)

PS: Dieser Reader enthält Informationen aus verschiedenen wissenschaftlichen Studien, die sich mit dem Thema „chronischer Schmerz“ beschäftigen. Teilweise sind die Themen und Behandlungsstrategien nur angerissen oder stark vereinfacht dargestellt. Um einen tieferen Einblick in das Fachgebiet zu bekommen, sind u.a. folgende Internetseiten interessant:

 

-        http://www.iasp-pain.org  (IASP-International Association for the Study of Pain)

 

-      http://www.efic.org    (EFIC- European Federation of IASP Chapters)

 

-        http://www.dgss.org (DGSS- Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes; dt. Abteilung der IASP)

 

-        http://www.pain-initiative.de    PAIN-Online

 

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