Die Sache mit der Babylüge (durch Angelika Hardegger von der "Neuen Zürcher Zeitung")

 

Als Baby wird Sarah Ramani Ineichen von Schweizer Eltern adoptiert. 35 Jahre später sucht sie in Sri Lanka die leibliche Mutter. Sie findet heraus, dass ihr zweiter Vorname eine Lüge ist, der Geburtstag vielleicht auch. Und sie ist bei weitem nicht die Einzige.

 

Am 5. März 1981 unterzeichnet Neranjala Kandeepan* die Lüge.

 

Ich, Neranjala Kandeepan, wohnhaft in 87810, 2nd Lane Kuruppu Road Borella, Buddhistin, erkläre, dass ich die Mutter von Ramani bin, geboren in der Castle Street Maternity in Borella am 23. Februar 1981.

 

Frau Kandeepan erhält 30 Dollar für die Unterschrift. Sie lebt im Armenviertel von Colombo. Sie braucht das Geld.

 

Ich gebe mein volles Einverständnis zur Adoption gemäss dem Amendment of Children’s Act Nummer 38. Ich kenne und verstehe die Konsequenzen einer Adoption und habe keinen Anspruch mehr auf das Kind. Ich gebe mein Einverständnis an Herrn und Frau O., wohnhaft in der Schweiz, derzeit wohnhaft an der 282/7 Galle Road, Colombo.

 

Herr und Frau O. sind ein junges Paar. Er ist 32, im Bauwesen tätig, mit eigenem Büro; sie 29, eine attraktive Frau, Sekretärin. Frau O. könnte eigene Kinder bekommen. Aber das Paar will ein Baby aus Sri Lanka adoptieren, eines, das Schutz braucht. Also reisen sie nach Sri Lanka und holen Ramani. (Foto: © Bereitgestellt von Neue Zürcher Zeitung AG)

 

Das erste Foto von Ramani hatten Herr und Frau O. per Post erhalten. Verschickt wurde das Foto in Bollingen am Zürichsee, Kanton St. Gallen. Dort betreibt Alice Honegger ein Mütterhaus und eine Adoptionsvermittlung. Seit 1979 vermittelt die damals 65-Jährige Kinder aus Sri Lanka in die Schweiz. Das Geschäft ist lukrativ. 1981, in dem Jahr, in dem Ramani in die Schweiz kommt, weist Alice Honegger einen Gewinn von 97 000 Franken aus. Das geht aus einem Bericht hervor, den der Kanton St. Gallen über die mittlerweile verstorbene Alice Honegger publiziert hat.

 

Am 16. März 1981 telegrafiert die Schweizer Fremdenpolizei ein Visum für Ramani in die sri-lankische Hauptstadt Colombo. Herr und Frau O. steigen mit dem Säugling in das Flugzeug. Sie geben ihr einen deutschen ersten Vornamen, Sarah. Vom Flughafen aus fahren sie heim ins Einfamilienhaus in Nidwalden, sieben Zimmer, Erstklassküche, Aussicht auf den See.

 

Um die 700 Schweizer Paare haben in den achtziger und neunziger Jahren ein Baby aus Sri Lanka adoptiert. Woher die Kinder kamen, wollte kaum jemand so genau wissen. Jetzt holt die Vergangenheit alle Beteiligten ein. Denn die Kinder sind erwachsen geworden – und sie forschen nach.

 

2017 machte der niederländische Fernsehsender Zembla publik, dass zu jener Zeit Tausende Säuglinge mit gefälschten Identitäten zur Adoption nach Europa freigegeben wurden. Die sri-lankische Regierung bestätigte in der Sendung die Existenz von «Baby-Farmen», wo Mütter und Kinder bis zur Adoption untergebracht waren. Laut den Recherchen von Zembla gab es auch Adoptivkinder, die ihren Müttern gestohlen wurden. Andere Mütter wurden offenbar genötigt, die Kinder für wenige Rupien wegzugeben.

 

In der Schweiz ist die Aufarbeitung des Skandals 2018 angelaufen, vorerst in St. Gallen, wo mit Alice Honegger die wichtigste Adoptionsvermittlerin tätig war. Vor drei Wochen hat der Kanton seinen Bericht über Honegger und deren Aufsicht durch die Behörden veröffentlicht. Das Fazit: Die zuständigen Stellen beim Kanton haben ihre Aufsicht «ungenügend» wahrgenommen. «Man drückte öfter ein Auge zu und sah nicht genau hin.»

 

Juli 1980. Claude Ochsenbein, Schweizer Botschafter in Colombo, erhält Post vom Bundesamt für Ausländerfragen in Bern.

 

Obschon bis heute keine ernsthaften Klagen gegen Frau Honegger bekanntgeworden sind, haben sich einzelne Stellen, die sich mit dem Pflegekinderwesen befassen, beunruhigt über die Vermittlertätigkeit geäussert. (. . .) Sollten Sie (. . .) den Eindruck gewinnen, es handle sich um einen lukrativen Kinderhandel, sind wir Ihnen für einen entsprechenden Hinweis dankbar.

 

Im selben Monat deponiert ein Ehepaar beim St. Galler Justiz- und Polizeidepartement eine Beschwerde. Das Paar wollte ein Kind adoptieren. Die Frau gibt zu Protokoll, das Beratungsgespräch mit Honegger sei «schockierend» verlaufen. Von Beratung könne kaum gesprochen werden. Das Gespräch habe sich nur um Geld gedreht.

 

Eineinhalb Jahre später, im Januar 1982, berichtet die New Yorker Tageszeitung «Daily News» von einer Razzia in einer «exportorientierten Babyfarm» in Sri Lanka. Die Babys würden den leiblichen Müttern für 250 bis 300 Rupien abgenommen und für das 140- bis 300-Fache an europäische Adoptiveltern verkauft. Im Mai 1982 titelt der «Tages-Anzeiger»: «Baby-Schmuggel auch nach der Schweiz».

 

Die «Schweizer Illustrierte» legt einen Artikel nach. Der Journalist bezeichnet Honegger als «Bollinger Maklerin» und lässt eine in Sri Lanka lebende Nonne sprechen. Die Nonne sagt, «dass man bei bestimmten Agenten auch Kinder bestellen kann, die noch gar nicht gezeugt worden sind. Sobald die ‹Bestellung› vorliegt, wird ein Mädchen, das mit dem Geschäft einverstanden ist, geschwängert und liefert nach neun Monaten die Ware ab.»

 

Im Herbst 1982 erhält der Vormundschaftsdienst des Kantons St. Gallen einen Brief von einem Ehepaar. Das Paar ist nach Sri Lanka gereist und ohne Kind zurückgekehrt. Die Frau schreibt, Alice Honegger habe ihr in Sri Lanka mehrere Kinder angeboten. «Das zweite Kind war ein herziges. Aber ich konnte mich nicht entscheiden, ich hatte einen Schock und gab das Kind zurück. Frau Honegger sagte, ich könne bis zu 50 Kinder anschauen – bis mir eines gefalle. Da ich diesen Kinderhandel nicht durchstehen konnte, kehrte ich nach Hause zurück.»

 

In Colombo wird Botschafter Claude Ochsenbein durch die Presseberichte aufgeschreckt. Er beginnt über das Milieu der privaten Adoptionsvermittler zu recherchieren. Einige Zeit später schickt er einen ausführlichen Bericht nach Bern. Ochsenbein schreibt, es handle sich bei den Schwangeren oft um ledige Frauen aus ländlichen Gebieten, die nicht rechtzeitig hätten abtreiben können. In Colombo fielen sie in die Hände von «luschen Schleppern».

 

Ochsenbein berichtet auch von einer Begegnung mit einem reichen Schweizer Arzt vor Ort. Dieser habe ihm anvertraut, dass er keine Zeit zu verlieren habe und sein Kind noch diese Woche bekomme, «koste es, was es wolle». Wenige Tage später sei er mit einem Bébé in die Schweiz zurückgereist.

 

Herr und Frau O., die Eltern von Ramani, lassen sich bald nach der Rückkehr in die Schweiz scheiden. 1983 kommt es zum Sorgerechtsstreit. Der Gemeinderat des Wohnortes lässt das Kind in der Obhut der Mutter. Aus Sicht der Bedürfnisse des Kindes seien zwar «nicht alle optimalen Voraussetzungen» erfüllt, heisst es in den Akten. Ein Wechsel in eine andere Familie sei dennoch die schlechtere Option.

 

Der Pflegevater verschwindet aus Sarahs Leben. Die Mutter heiratet ein zweites Mal. Sarah realisiert lange Zeit nicht, dass die Mutter nicht die biologische sein kann. Als das Kind sechs ist, sagt ein Gspänli im Kindergarten zu ihr, die richtige Mutter habe sie auf der Strasse ausgesetzt. Sarah rennt heim und fängt an, Fragen zu stellen.

 

Als Sarah elf ist, reist sie mit der Mutter nach Sri Lanka. Die Mutter fragt: «Willst du deine leibliche Mutter suchen?» Sarah ist überfordert. Mit zwanzig will Sarah die Mutter nach Sri Lanka einladen. Jetzt will die Mutter nicht mit. Mit Mitte zwanzig verliebt sich Sarah in einen Mann. Sie zieht zu ihm nach Genf, noch im gleichen Jahr wird sie schwanger. Nach der Geburt bricht die Mutter den Kontakt zu Sarah ab. Warum, weiss Sarah bis heute nicht genau.

 

Im Herbst 2016 fasst Sarah einen Entschluss. Sie will ihre biologische Mutter suchen.

 

 

 

 

 

 

 

Mit 35 beschliesst Sarah Ramani Ineichen, dass sie ihre Mutter suchen will. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

 

Sarah schreibt eine Karte an den ersten Vater. Sie sei die Pflegetochter, sie wohne in Genf, es gehe ihr gut, sie sei verheiratet, habe drei Kinder, keinen Kontakt mehr zur Mutter, aber viele Fragen. Zwei Monate später trifft sie den Vater. Er bringt eine Geburtsurkunde mit. Jetzt hat Sarah eine Adresse.

 

Name der Mutter: Neranjala Kandeepan

 

Geburtsdatum der Mutter: 23. 10. 1958

 

Geburtsort: Colombo

 

Wohnort: 78710, 2nd Lane Kuruppu Road Borella

 

Sarah tippt die Adresse auf Google Earth ein, einmal, zweimal, zwanzigmal. Im März 2017 fliegt sie mit der besten Freundin nach Sri Lanka.

 

In Colombo geben die Frauen einem Chauffeur die Adresse an. Aber eine Neranjala Kandeepan wohnt dort nicht. Im angeblichen Geburtsspital, der Castle Street Maternity in Colombo, lässt Sarah Ineichen das Geburtenbuch überprüfen. Am 23. Februar 1981 ist hier kein Kind mit Namen Ramani auf die Welt gekommen. Die Freundinnen suchen die Einwohnerbehörde auf. Eine Neranjala Kandeepan, geboren am 23. Oktober 1958, existiert in Sri Lanka nicht.

 

Sarah Ineichen ist Hebamme. Sie hat das Wunder der Geburt zu ihrem Beruf gemacht. Sie hat früh angefangen, die Umstände der eigenen Geburt zu hinterfragen. Aber statt Antworten findet sie in Sri Lanka nur noch mehr Fragen.

 

Im September 2017, sechs Monate nach Sarah Ramani Ineichens Rückkehr in die Schweiz, macht der niederländische Fernsehsender Zembla neue Recherchen zu den Adoptionen publik. Demnach hatten kriminelle Vermittler vor Ort Schauspielmütter engagiert, um den Adoptionen den Anschein der Legalität zu geben. Eine Frau erzählt in der Sendung, sie sei dafür bezahlt worden, dass sie sich als biologische Mutter ausgegeben und den Verzicht auf das Kind erklärt habe.

 

Im Dezember 2017 reist Sarah Ramani Ineichen mit ihrer Familie erneut nach Sri Lanka. Trotz der Enthüllung über die Schauspielmütter ist sie überzeugt: Wenn sie Neranjala Kandeepan findet, findet sie ihre Mutter. Eine Vertrauensperson vor Ort schlägt vor, im Abstimmungsbüro nach dem Namen zu suchen. Endlich, ein Treffer.

 

Sarah Ramani Ineichen fährt zu der Adresse. Der Ehemann stellt sie vor, sagt, sie komme aus der Schweiz und suche Neranjala Kandeepan. Die Mutter des Hauses, eine breite, grossbusige Frau, holt einen Pass hervor. «Neranjala Kandeepan, das bin ich», sagt sie. Aber sie sagt auch: «Ich bin nicht deine Mutter.»

 

Neranjala Kandeepan ist eine Schauspielmutter. Sie habe 30 Dollar dafür bekommen, dass sie ihre Mutter spiele, erzählt sie Sarah. Die Geburtsurkunde sei gefälscht. Sarah will ihr nicht glauben. «Vielleicht will sie mich verheimlichen», denkt sie. «Vielleicht traut sie sich nicht, vor der Familie zu sagen, dass sie meine Mutter sei.» Die grosse Nase, der Haaransatz, die Augenfältchen. Das müsse doch die Mutter sein, glaubt Sarah. Sie bittet die Frau um einen DNA-Test. Zu Neujahr hat sie Gewissheit.

 

Bei 12 der 15 STR-Loci gab es kein Allel von Frau Neranjala Kandeepan(vermeintliche Mutter), das mit einem Allel von Frau Sarah Ramani Ineichen (Kind) gemeinsam war. Dies ist kein Ergebnis, das von einer biologischen Beziehung zwischen Mutter und Kind erwartet wird. Daraus lässt sich schliessen, dass Frau Kandeepan nicht die biologische Mutter von Frau Sarah Ramani Ineichen ist.

 

Im Januar sucht Sarah Ramani Ineichen einen Traumatherapeuten auf. Sie wisse nicht mehr, wer sie sei, erzählt sie ihm. Ihr zweiter Vorname sei eine Lüge, der Geburtstag vielleicht auch. Im Februar, einen Tag nach dem vermeintlichen Geburtstag, gründet Sarah Ramani Ineichen einen Verein. Über eine amerikanische DNA-Datenbank hat sie eine biologische Cousine gefunden, die in Zürich lebt. Zusammen bauen die beiden «Back to the Roots» auf, eine Anlaufstelle für Schweizer Adoptierte aus Sri Lanka.

 

Der Verein gewinnt rasch Mitglieder. Auch Adoptiveltern treten bei. Manche von ihnen unterstützen ihre Kinder bei der Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Aber nicht alle finden gut, dass die Adoptierten in der Vergangenheit herumstochern. Ein Elternpaar schreibt an Sarah Ramani Ineichen, sie solle doch einfach dankbar sein für das, was sie habe. «Schauen Sie sich die andere Variante an: Sie wären nicht adoptiert worden. Was wäre aus Ihnen geworden? Sie würden möglicherweise, falls Sie überhaupt noch am Leben wären, in einer Abfallgrube Plastikflaschen sammeln, um wirtschaftlich überleben zu können.»

 

Sarah Ramani Ineichen sagt, sie sei dankbar. Dankbar, dass sie eine gute Ausbildung habe machen dürfen. Dankbar, dass sie gesund sei. Aber vielleicht wäre sie auch gesund gewesen, wenn sie in Sri Lanka geblieben wäre. «Und selbst wenn nicht: Niemand kann sagen, ob ich nicht lieber in den Armen meiner Mutter gestorben wäre. Niemand. Ausser mir.»

 

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